Frühling in bleierner Zeit - Kontaktsperre unter Corona in Waldenbuch


von Gabriele Doster

 

„Es schlummern die Gänge und die Gassen

und fast will es mir scheinen,

es sei, als in der bleiernen Zeit"

Aus dem Gedicht "Der Gang auf’s Land" von Friedrich Hölderlin (1801)

 

Kontaktsperre unter Corona in Waldenbuch im März/April/Mai 2020: Bleierne Zeit - erstarrte Zeit - Bedrückung - Lähmung - Erschöpfung - die Bilder aus Italien, dem Elsass, Spanien: unzählige Tote - Krankenschwestern und Ärzte sterben bei der Versorgung ihrer Patienten. Ich kann es nicht glauben, geschieht das wirklich? Jetzt?

 

Mailand, Straßburg, wir waren dort vor sechs Monaten, unbeschwert und fröhlich. Habe das Tagebuch wieder herausgeholt am 24. März - seit einer Woche leben wir zurückgezogen in unseren vier Wänden, mein Mann und ich - wir gehören zur Risikogruppe - jäh wurde uns unser Alter bewusst. Alt waren für uns bisher die 90-jährigen - jetzt sagt Prof. Drosten aus der Charité: Ab 60 ist das Virus unberechenbar, die Sterblichkeitsrate deutlich erhöht. Es ist real, das Ende könnte kommen, das hatten wir bisher gut verdrängt.

 

Das Leben wird langsamer, fast genießen wir das zu Zweitsein, löschen unsere Terminen spüren sowas wie Freiheit von selbstauferlegten Pflichten und Vergnügungen. Am Abend regelmäßig die Tagesschau (fast 80% der Bundesbürger halten sie wieder für eine wichtige Nachrichtenquelle) Heimkino - Oper frei Haus - um 19.30 Uhr die Kirchenglocken. Die Mahlzeiten nehmen einen ungeahnten Raum ein - Strukturen im zeitlosen Tag. Einkaufen will geplant sein, keine Spontankäufe mehr. Um 07.00 Uhr stehe ich bei Edeka, Anneliese Schulz sei Dank, sie hat diese Möglichkeit für Senioren erwirkt. Liebe Familie Hacker, lieber Herr Kühfuß und Herr Oesterle, liebe Mitarbeiter*innen, es ist großartig wie Sie uns versorgen in dieser Zeit und wie gelassen alles läuft. Was hinter den Kulissen geleistet wird, wir können es kaum erahnen.

 

Erinnerungen nicht nur an Reisen gewinnen an Bedeutung, wir lassen sie durchs Gespräch vor unserem geistigen Auge entstehen. Die Photos der Enkelkinder, unzählige Male schauen wir drauf am Tag, wohl wissend, dass dies Momentaufnahmen sind und deren Leben jeden Tag Fortschritte macht, ganz ohne uns. Charlotte hat Laufen gelernt in den letzten zwei Wochen - sie besitzt keine Schuhe und da alle Geschäfte geschlossen sind, bekommt sie leuchtend gelbe von einer befreundeten Familie vererbt und ist sehr stolz. Julius wacht täglich auf und möchte wissen ob die „Krankheit“ jetzt endlich weg sei und er wieder auf den heißgeliebten Spielplatz darf.

 

Der Sonntag soll besonders sein, herausgehoben, beschließen wir. Er beginnt ohne morgendlichen Sport. Im „Sonntagskleid“ (ab und zu sollte man ja was Ordentliches anziehen) sitzen wir zu zweit vor dem Bildschirm mit Gesangbuch und warten auf den Videogottesdienst aus der St. Veitskirche. Ganz neue Blicke werfen wir auf unsere Kirche. Das Glasfenster auf der Orgelempore durch die Kameraführung ganz nah. Pfarrer Georg List berührt durch seine Authentizität, seine Worte erreichen uns. Gemeinschaft in schweren Zeiten, Auge und Ohr für den Nachbarn in Not. Jugendliche vom TSV Waldenbuch kaufen ein für die Senioren im Sonnenhof. Es tut gut das zu hören.

 

Das Telefon bekommt seinen Wert zurück, es ist lange her, dass ich mit Freundinnen und Schwestern so intensiv und so lange gesprochen habe. Videokonferenzen und Face-Time Anrufe ziehen in unseren Alltag ein. Angst haben vor Ansteckung, das Virus ist tödlich, wenn es mich trifft. Der Schwager Mitte 50 schwer Lungenkrank, seine Angst ist real, jede Minute begleitet sie jetzt sein Leben. Er zieht sich zurück, wie lange? Ist das durchhaltbar? Kein normaler Kontakt, selbst Abstand zu Frau und Kind? Die Impfung ein Hoffnungsschimmer, doch wann? Der Schwiegersohn in Kurzarbeit, gerade haben sie ein kleines Häuschen gekauft - die Tochter bangt um benachteiligte Kinder im „Homeschooling“. Die Schwachen bekommen Briefe mit den Aufgaben. Antworten gehen selten ein. Kann man das Aufholen hinterher? Ein anderer Schwager Musiker - auf dem Friedhof begleitet er die einsamen Beerdigungen mit seiner Trompete - keine Konzerte, nirgends. Die lang vorbereitete Hochzeit am 2. Mai, sie wird verschoben. Das Brautkleid wartet im Schrank auf's nächste Jahr.

 

Die Politik hat ihre Ernsthaftigkeit zurückgewonnen, Angela Merkel und Jens Spahn ein aufrichtiges Gespann; Winfried Kretschmann fährt glaubwürdig auf Sicht. Wir sind dankbar, dass alles so geordnet läuft, dass Besonnenheit und Disziplin und der Schutz der Schwächeren die Leitgedanken sind und mit sozialer Marktwirtschaft wirklich Ernst gemacht wird. Bravo Herr Scholz! Das Aufräumen gibt unserem Tag Sinn; wir füllen Müllsack um Müllsack und reihen uns am Wertstoffhof in die Schlange. Natürlich mit Maske. Die Nähmaschine entstauben, im Keller aufbauen. Die Dame von YouTube hilft mir beim Nähen. Eine „Maskengaderobe" haben wir umgehend installiert, zum Drandenken beim Verlassen des Hauses.

 

„Komm ins Offene Freund, schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings aufgegangen das Thal,

wenn mit dem Neckar herab Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume zahllos,

blühend und weiß wallen in wiegender Luft.“

so Hölderlin am Ende des Gedichtes.

 

Dankbarkeit erfüllt mich jeden Morgen, wenn die Amsel ihren ersten Ton singt und das Grün gegen den blauen Himmel strebt. Ganz ohne unser Zutun. Spaziergänge und Radtouren durch den erblühenden Schönbuch. Paradiesisch. Die Natur fast erleichtert, will mir manchmal scheinen, darüber, dass der Störfaktor Mensch in seine Schranken gewiesen wurde. Wird dies durchzuhalten sein, nachher, wenn sich alles wieder dreht? Diese „Ehrfurcht“ vor allem Leben wie sie Albert Schweitzer genannt hat. Kapieren wir endlich in welche Richtung wir wachsen müssen? Wäre jetzt nicht die Zeit reif für einen Soli für Klima und Soziales? Begreifen wir doch den Ernst der Stunde!